Ende des letzten Jahres staunte ich nicht schlecht, als ich im BUND über die städtischen Kinderkrippen Bern’s die folgende Schlagzeile las:
«Praktikanten ersetzen in Kitas Lehrlinge. Die städtischen Kitas müssen 800’000 Franken sparen. Sie tun dies beim Personal» (Beitrag vom 16.11.2015). War in den letzten Jahren nicht genau vom Gegenteil die Rede? Dass das Praktikum abgeschafft gehöre? Dass man aufhören solle, junge Leute auszunutzen?
Schafft das Praktikum ab
Bereits im Jahr 2010 bezog SAVOIRSOCIAL, die Dachorganisation der Arbeitswelt Soziales, in einem Positionspapier dezidiert Stellung gegen das Praktikum. KIBESUISSE stiess in dasselbe Horn. Im Anschluss an die Einführung der Ausbildung Fachfrau / Fachmann Betreuung im Jahr 2006 lehnten beide das Berufspraktikum ab. Angesichts der Tatsache, dass viele junge Menschen selbst nach einem Praktikum keine Lehrstelle finden, betrachteten sie dieses als unnötige und problematische Zwischenschlaufe. Weil eine berufliche Grundbildung direkt im Anschluss an die Volksschule begonnen werden kann, forderten sie einen Verzicht auf das Praktikum.
Dieselbe Haltung nimmt jüngst auch der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) ein. In seiner Broschüre zum Musterarbeitsvertrag für Kinderkrippen, Kinderhorte und Mittagstische (2015) heisst es: «Der VPOD ist der Auffassung, dass diese Praktika unterbunden werden müssen. Betriebsbewilligungen dürfen nur erteilt werden, wenn ein Betriebskonzept vorliegt, welches ohne diese Form der unterbezahlten Arbeitskräfte auskommt» (Seite 9).
Eine jahrelange Kontroverse
Seit Jahren geniesst das Praktikum einen umstrittenen Ruf. Wir haben es hier mit einer klassischen Kontroverse in einem Berufsfeld zu tun. Wie der Fall in der Stadt Bern überdeutlich zeigt, scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite diejenigen, die das Praktikum abschaffen wollen. Auf der anderen die, welche es sogar als Sparmassnahme wieder einführen möchten.
Ich selber kann die teilweise vorhandene Polemik nicht verstehen. Seit vielen Jahren im Berufsfeld tätig, bildete ich viele junge Menschen inkl. Praktikant/Innen aus. Auch als Berater war ich immer wieder in Situationen involviert, die unter anderem das Praktikum betrafen. Mit diesen Erfahrungen nahm ich bereits vor Jahren den Kurs «Professionelle Praktikumsanleitung» in mein Bildungsangebot auf. Deshalb habe ich auch heute laufend mit Fragen rund ums Praktikum zu tun. Vor diesem Hintergrund empfinde ich das Praktikum weitaus weniger problematisch als die erwähnten Protagonisten. Was ist denn so schlecht an einem Praktikum, dass man es wie ein Unkraut ausmerzen will?
Kontra Praktikum
Einverstanden, auch ich kenne Betriebe, die Praktikant/Innen weniger als einen Lehrlingslohn bezahlen; die über kein Praktikumskonzept verfügen; die ein Praktikum an einen jungen Menschen vergeben, der bereits ein oder sogar zwei Praktika absolvierte; die bloss Hilfsarbeiten verteilen; die keine regelmässige und kompetente Anleitung gewährleisten; die das Praktikum nicht für ein gezieltes Coaching der jungen Menschen zur weiteren Berufswegplanung nutzen; und die ein Praktikum ohne eine Chance zusagen, sich später für eine Lehrstelle bewerben zu können. Solche Betriebe müssen sich in der Tat die Bezichtigung gefallen lassen, dass sie Praktikant/Innen ausnutzen. Doch wie die Realität zeigt, vergeht Unkraut nicht und existieren nichts desto trotz sehr viele Institutionen, die mit vorbildlichen Massnahmen solche Mängel vermeiden.
Pro Praktikum
Gegenüber den Kontra-Argumenten sehe ich aber auch einige Punkte, die für ein Praktikum sprechen. Für viele junge Menschen ist ein Praktikum eine willkommene Gelegenheit, ihren Berufswunsch zu klären und heraus zu finden, ob sie sich für eine Lehre in der Kinderbetreuung überhaupt eignen. Oftmals ist es aber auch so, dass Jugendliche nach der Volksschule noch gar nicht wissen, was sie einmal lernen und werden möchten. Ihnen verhilft ein Praktikum zu neuen Erfahrungen und Anstössen. Weiter gibt es zudem die schulmüden und noch richtungslosen Menschen, die erstmals einfach bloss arbeiten möchten. Sie haben die Nase voll von Schule und freuen sich deshalb auf erste Erfahrungen in der Arbeitswelt. In all diesen Fällen ist es Gold wert, in der Form eines Praktikums eine Gelegenheit für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu erhalten. Da soziale Organisationen spannende, lebendige, teamorientierte und interessante Betriebe sind, stellen sie aus der Sicht der Jugendlichen überaus dankbare Praktikumsorte dar.
Basics und Ziele der Praktikumsanleitung
Abgesehen von allem Pro und Kontra und abgeleitet aus dem Gesagten, gibt es einige wichtige Basics und Ziele für die professionelle Praktikumsanleitung:
- Kriterien für Praktikumsvergabe festlegen
- Angemessenen Praktikumslohn bezahlen
- Praktikumskonzept (weiter) entwickeln
- Regelmässige Praktikumsanleitung gewährleisten
- Praktikumsanleiter/Innen methodisch-didaktisch befähigen
- Spannende und interessante Praktikumsaufgaben ermöglichen
- Praktikant/Innen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleiten
- Einführung in die Arbeitswelt steuern und reflektieren
- Praktikant/Innen bei den nächsten beruflichen Schritten coachen
- Chancen zur Bewerbung für eine Lehrstelle ermöglichen
Was übrigens den Lohn betrifft: In vielen Betrieben beträgt er um die Fr. 1000.-. Für jemanden, der erst gerade aus der Schule kam, finde ich das keinen schlechten Lohn. Auch angesichts eines Lehrlingslohnes, der im ersten Jahr weitaus tiefer liegt, verstehe ich nicht, weshalb man immer wieder über die Praktikumslöhne schimpft.
Praktikum aufwerten
Über obige Basics hinaus sehe ich folgende zusätzlichen Möglichkeiten, um das Praktikum weiter zu entwickeln und aufzuwerten:
- Praktikumspalette vergrössern und neue Angebote schaffen (z.B. Kurzpraktikum, Praktikum im Rahmen eines 10. Schul- oder eines Sozialjahres, Vorpraktikum für HF und FH usw.)
- Praktikum in die Zuständigkeit einer ausbildungsverantwortlichen Person geben und Synergien zwischen Lehre und Praktikum herstellen
- Praktikum gruppen- und betriebsübergreifend organisieren und zusammenarbeiten
Aufgrund vielfältiger eigener Erfahrungen weiss ich, dass es hier grosse Potenziale gibt. Insbesondere mittlere und grössere Trägerschaften könnten sie nutzen. Auf diese Weise müsste man definitiv feststellen: Wenn man Unkraut pflegt, statt es auszumerzen, wachsen wider Erwarten schöne Pflanzen heran!
In diesem Beitrag erwähnte Quellen:
Zeitungsartikel im Bund vom 16.11.2015
Positionspapier SAVOIRSOCIAL über das Praktikum
Broschüre zum Musterarbeitsvertrag für Kinderkrippen, Kinderhorte und Mittagstische
Siehe auch den folgenden Beitrag im Päda.blog!:
VPOD-Broschüre zum Musterarbeitsvertrag wirft Fragen auf