Kanton Aargau will die Kinderbetreuung stärken

Kanton Aargau will die Kinderbetreuung stärken

Der Regierungsrat im Kanton Aargau will die Kinderbetreuung stärken. Einerseits legte er im Entwicklungsleitbild 2021 – 2030 die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als Stossrichtung fest. Anderseits beschloss er das Programm «Aargau 2030 – Stärkung Wohn- und Wirtschaftsstandort», mit dem er die Rahmenbedingungen für den Aargau weiter verbessern will.

Trotz der an sich guten Standortqualitäten fällt der Aargau im Vergleich mit anderen Kantonen zurück. Die familien- und schulergänzende Kinderbetreuung spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Um zu wissen, wo man steht, entstanden verschiedene interessante Berichte. Sie zeigen, dass der Aargau in Sachen Kinderbetreuung gewissermassen noch ein «Entwicklungsland» ist. Der Handlungs- und Verbesserungsbedarf ist gross und erfordert verschiedene Anstrengungen.

Die erwähnten Berichte umfassen folgende Arbeiten:

  1. INFRAS (8.2023): Initialstudie familien- und schulergänzende Kinderbetreuung im Kanton Aargau.
  2. Departement Gesundheit und Soziales (5:2024): Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Situation der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Kanton Aargau. Zusatzuntersuchungen.
  3. Kanton Aargau (5.2024): Synthesebericht: Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Situation der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Kanton Aargau.

Diese Arbeiten stehen nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit dem 2016 eingeführten Kinderbetreuungsgesetz (KiBeG). Der Kanton Aargau nutzte die Gelegenheit, mit diesen Studien auch auf verschiedene Postulate des Grossen Rats zum KiBeG zu reagieren.

Die empirisch angelegte INFRAS-Studie ist die erste Gesamtübersicht über Situation, Bedarf und Angebot der familien- und schulergänzenden Kinderbetreuung im Kanton Aargau seit Einführung des KiBeG. Die Daten wurden im Jahr 2022 online erhoben, wobei die Rücklaufquote bei den Kitas 72%, bei den Tagesstrukturen 73% und bei den Tagesfamilienorganisationen 100% betrug. Mit den Zusatzuntersuchungen wurden verschiedene Fragestellungen vertieft. Der Synthesebericht stellt eine Zusammenfassung der INFRAS-Studie und der Zusatzuntersuchungen dar.

Gegenstand der folgenden Ausführungen sind Erkenntnisse aus dem Synthesebericht. Sie beziehen sich auf drei Handlungsfelder (bedarfsgerechtes Angebot, Finanzen und Qualität) und machen deutlich, wie gross der Entwicklungsbedarf ist.

Tiefer Versorgungsgrad

Für 10% der im Kanton Aargau wohnhaften Kinder (0 bis 12 Jahre alt) steht ein Betreuungsplatz zur Verfügung. Im Frühbereich (0 bis 4 Jahre) ist der Versorgungsgrad mit 12% leicht höher als im Schulbereich (5 bis 12 Jahre) mit 9%. Die Unterschiede zwischen den kantonalen Bezirken sind gross. Da an der Erhebung nicht alle Einrichtungen teilnahmen, wird der Versorgungsgrad etwas unterschätzt. Trotzdem scheinen die erhobenen Daten gut mit den Daten aus anderen kantonalen Erhebungen vergleichbar.

Der interkantonale Vergleich zeigt, dass der Versorgungsgrad im Vorschulbereich im Kanton Aargau (12%) gleich ist wie im Kanton Solothurn (12%) und leicht höher als in den Kantonen St. Gallen (8%) und Thurgau (11%). Hingegen ist der Aargauer Versorgungsgrad im Schulbereich tiefer als im schweizerischen Durchschnitt (18%) und deutlich tiefer als in den Nachbarkantonen Basel-Landschaft (21%), Zug (34%) und Zürich (24%).

Betreuungsquote

Die erhobene Betreuungsquote lag bei durchschnittlich 18%. Die Betreuungsquote beinhaltet den Anteil betreuter Kinder an allen im Kanton wohnhaften Kindern. Da ein Betreuungsplatz jeweils von mehreren Kindern genutzt wird, ist die Betreuungsquote höher als der Versorgungsgrad.

Auch bei dieser Auswertung wird die Menge unterschätzt, da nicht alle Aargauer Betriebe an der Erhebung teilnahmen. Wird davon ausgegangen, dass die Betriebe, von denen keine Daten vorliegen, eine analoge Struktur aufweisen wie diejenigen Betriebe mit Daten, würde die Betreuungsquote hochgerechnet rund 24% betragen.

Auffällig sind auch hier die grossen innerkantonalen Unterschiede: Eher städtisch geprägte Bezirke (wie Aarau, Baden und Rheinfelden) weisen beim Versorgungsgrad überdurchschnittliche Werte auf, während eher ländliche Bezirke (wie Kulm, Muri, Zofingen und Zurzach) klar unter dem Durchschnitt liegen.

Im interkantonalen Vergleich erweist sich die Betreuungsquote von Kindern im Alter von 0 bis 12 Jahre ähnlich hoch wie in den Kantonen Thurgau, Solothurn und St. Gallen. Sie liegt aber deutlich tiefer als z.B. in den Kantonen Basel-Stadt, Zug und Zürich.

Hohe finanzielle Belastung der Familien

Im Kanton Aargau tragen die Eltern durchschnittlich rund 86% der Kosten für die Kinderbetreuung. Im Kanton Thurgau sind es rund 90%, im Kanton Zürich 72%, im Kanton St. Gallen 63% und im Kanton Basel-Land 78%. In den Kantonen Genf, Waadt und Neuenburg liegt der von Eltern finanzierte Anteil durchschnittlich zwischen 20 bis 40%. Die finanzielle Belastung der Aargauer Eltern ist damit vergleichsweise hoch.

Tiefer Finanzierungsgrad

Der Kanton beteiligt sich nicht an der Finanzierung. Er delegiert dies (wie z.B. auch die Kantone Basel-Landschaft, Luzern und Thurgau) an die Gemeinden. Der Finanzierungsgrad setzt die jährlichen Ausgaben der öffentlichen Hand ins Verhältnis zur Anzahl wohnhafter Kinder zwischen 0 und 12 Jahren. Er liegt im Kanton Aargau bei Fr. 247.- pro Kind.

Im Kantonsvergleich zählt der Kanton Aargau zusammen mit den Kantonen Solothurn und Schwyz zu den Kantonen mit dem tiefsten Finanzierungsgrad. Bereits der Kanton Basel-Landschaft weist mit Fr. 513.- einen doppelt so hohen Finanzierungsgrad auf. Die Kantone Bern und Zürich haben rund sieben bis zwölf Mal höhere Finanzierungsgrade. Und auch in den Kantonen St. Gallen und Schaffhausen liegt er 2,5- bis 3,5-mal höher.

Ungedeckter Bedarf

INFRAS befragte in elf Gemeinden (eine Gemeinde pro Bezirk) alle Eltern von Kindern zwischen 0 und 12 Jahren. Die Rücklaufquote betrug durchschnittlich 47%. Insgesamt nahmen 2’486 Familien an der Umfrage teil.

40% der Familien nutzen eine Form der familien- oder schulergänzenden Kinderbetreuung. Acht von zehn Kindern werden in der Wohngemeinde betreut. Rund jedes zehnte Kind besucht ein Angebot in der Nachbarsgemeinde. Rund jede achte Familie, die eine institutionelle Betreuung nutzt, hat einen Bedarf nach zusätzlicher Betreuung. Etwas mehr als jede vierte Familie, die keine Betreuung nutzt, wünscht sich in absehbarer Zeit eine institutionelle Betreuung.

Bei einem tieferen Preis würden vermutlich deutlich mehr Familien eine institutionelle Betreuung nachfragen. Schulferienangebote, flexiblere Betreuungszeiten oder eine bessere Qualität der Angebote würden die Nachfrage ebenfalls erhöhen. Hochrechnungen der Ergebnisse zeigen, dass für potenziell rund 74% (aktuelle Betreuungsquote 24%) der Aargauer Kinder im Alter von 0 bis 12 Jahren ein Bedarf nach institutioneller Kinderbetreuung bestehen könnte.

Ungenügende Qualitätsstandards

Im Kanton Aargau sind die Gemeinden für die Sicherstellung einer guten Betreuungsqualität verantwortlich. Hierzu müssen sie Qualitätsstandards festlegen und deren Einhaltung beaufsichtigen (§3 KiBeG). Die Standards sind verbindlich und können sowohl in einem kommunalen Reglement als auch in einem Gemeinderatsbeschluss festgehalten werden.

Nur sehr wenige Gemeinden definieren keine Qualitätsvorgaben. Jedoch verdeutlicht die von INFRAS vorgenommene Gemeindebefragung, dass sich viele Gemeinden lediglich auf die Pflegekinderverordnung (PAVO) abstützen (Kitas: 27%, Tagesstrukturen: 30%, Tagesfamilien: 40% der Gemeinden). Dies ist unbefriedigend, denn die PAVO hält nur allgemeine Grundsätze zum Kindswohl fest. Sie macht keinerlei genauere Vorgaben (etwa zum Betreuungsschlüssel, zur Qualifikation des Personals oder zu notwendigen Konzepten). Dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der Befragung der Betriebe wider: Dort geben knapp 40% der Kitas an, dass sie seitens Gemeinde keine genauen Vorgaben betreffend Betreuungsschlüssel erhalten. Weitere 13% wissen nicht, ob es überhaupt Vorgaben gibt.

Abgesehen davon zeigte die Erhebung, dass nur rund 60% der Kitas im Kanton Aargau über ein pädagogisches Konzept verfügen. Bei den Tagesstrukturen sind es gar nur 20%, die sich in ihrer Arbeit an einem pädagogischen Konzept orientieren.

Bewilligung und Aufsicht

Im Kanton Aargau ist der jeweilige Gemeinderat für die Betriebsbewilligung und die Aufsicht zuständig.

Obwohl auf Gemeindegebiet jeweils mindestens ein Betreuungsbetrieb vorhanden ist, waren die Zuständigkeiten für den Bewilligungsprozess nicht in allen Gemeinden definiert. Im Bereich der Aufsicht zeigte sich ein ähnliches Bild. Insgesamt gaben 20 Gemeinden an, für ihre Bewilligung und Aufsicht keine zuständigen Stellen und Vorgehensweisen definiert zu haben. Demzufolge geht man im Synthesebericht davon aus, dass diese Gemeinden ihrem gesetzlichen Auftrag nicht vollständig nachkommen.

Der Gesamtaufwand für die Wahrnehmung der Aufsichtsrolle variiert stark. Massgebend sind die Anzahl der zu prüfenden Qualitätskriterien und die Professionalität der Aufsichtsorgane. Bei kleineren Gemeinden betrug der Aufwand bloss ein bis zwei Stunden pro Betrieb. Grössere Gemeinden mit mehr Kinderbetreuungsangeboten setzten vier- bis sechszehn Stunden pro Betrieb und Aufsichtsprozess ein.

Die befragten Gemeinden und Organisationen verwiesen auf die grossen strukturellen Herausforderungen im Bereich der Bewilligung und Aufsicht. Aus ihrer Sicht wird ein zu starker Fokus auf die Strukturqualität gelegt, während die Prozess- und Orientierungsqualität nur marginal überprüft wird. Man wünscht sich u.a. mehr Hilfsmittel und Austausch mit anderen Gemeinden. Der Synthesebericht macht zudem auf die fehlende Professionalisierung, die mangelhafte Standardisierung sowie die knappen zeitlichen und personellen Ressourcen aufmerksam.

Für Kitas und Tagesfamilien gilt: Im interkantonalen Vergleich (Vergleichskantone: Basel-Landschaft, Bern, Solothurn, St. Gallen, Thurgau, Zug und Zürich) sind die Kantone Aargau und Luzern die einzigen Kantone, die Qualitätsvorgaben nicht auf Kantons-, sondern auf Gemeinde-Ebene definieren. Für Tagesstrukturen ist die Situation im Vergleich etwas komplizierter und heterogener, jedoch sind im Kanton Aargau ebenfalls die Gemeinden für die Aufsicht zuständig

Finanzierungs- und Tarifmodelle in den Gemeinden

Die Berichtsergebnisse stellen bei der Berechnung des massgebenden Einkommens grosse Unterschiede fest. Die Finanzierungs- und Tarifmodelle der untersuchten Gemeinden weisen in der Tendenz hohe Hürden für den Erhalt von Subventionen auf. Das Prozedere für den Nachweis des Subventionsanspruchs ist sowohl für die Eltern als auch für die Gemeindebehörden meist aufwendig ausgestaltet

Trägerschaften

Von den 151 Kitas, die an der Umfrage teilnahmen, wurden 149 von einer privaten Trägerschaft geführt. Auch bei den Tagesstrukturen überwog eine private Trägerschaft, denn von insgesamt 184 Betrieben wurden 105 (=57%) privat und 79 öffentlich getragen. Zwischen Tagesstrukturen und Schule gibt es in 43% der Fälle trotz geografischer Nähe keine regelmässige Zusammenarbeit.

Auslastung

Gemäss INFRAS-Studie gelten Auslastungswerte zwischen 80% und 90% in Kitas als gute Auslastung. Tagesstrukturen erreichen in der Regel eine tiefere Auslastung, da ein Teil der Kinder am Nachmittag Schulunterricht hat.

Nach Einschätzung der befragten Trägerschaften ist knapp eine von vier Kitas voll ausgelastet. Die Hälfte der Kitas ist gut ausgelastet. Etwas mehr als ein Viertel der Kitas hingegen ist nicht gut ausgelastet und hat an mehreren Wochentagen noch freie Kapazitäten.

Bei den Tagesstrukturen ist die durchschnittliche Auslastung tiefer als bei den Kitas. Nur eine von 25 Tagesstrukturen gibt an, gut ausgelastet zu sein. Die meisten Tagesstrukturen haben noch viel freie Kapazitäten.

Finanzielle Situation der Trägerschaften

Ungefähr 30% der befragten Kitas und Tagesstrukturen schreiben einen Verlust (Jahr 2021). Nur 23% der kleinen Kitas schreiben einen Gewinn. Bei den grossen Kitas sind es 40%. Ein Drittel der kleinen Kitas gibt an, dass sie das eigene Betriebsergebnis nicht kennen.

Für Tagesstrukturen ist die finanzielle Situation noch angespannter als für Kitas. Während ungefähr jede vierte Kita einen Gewinn ausweisen konnte, gelang dies nur rund etwas mehr als jeder zehnten privaten Tagesstruktur.

Im Fall eines Verlusts erhalten nur 3% der privaten Kitas und 28% der privaten Tagesstrukturen von der Gemeinde eine Defizitgarantie.

Abschliessender Kommentar

Über die hier zusammengestellten Aussagen kann man teilweise nur staunen. Im Quervergleich mit anderen Kantonen schneidet der Kanton Aargau in der Kinderbetreuung schlecht ab. Entwicklungen, Veränderungen und Verbesserungen sind deshalb dringend nötig. Dank den umfassenden Abklärungen wird klar, wo der Schuh drückt, wo Mängel liegen und wo angesetzt werden muss. Der INFRAS-Bericht ist – wie viele andere INFRAS-Berichte auch – von ausgezeichneter Qualität. Und im Synthesebericht scheut man sich seinerseits nicht, die Dinge deutlich und ehrlich zu benennen. Gut so. Nun darf man auch im Kanton Aargau auf eine Entwicklungsoffensive hoffen.

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