In den folgenden Zeilen möchte ich Ihnen die Idee eines Belastungs-Index für Kitas vorstellen. Ich bin im Kita-Bericht 2024 des Paritätischen Gesamtverbandes darauf gestossen. Der Bericht behandelt die Ergebnisse einer Umfrage unter 1760 deutschen Kindertageseinrichtungen im Sommer 2023 und wurde im Mai dieses Jahres publiziert. In der Umfrage ging es um die Einschätzung der Arbeitsbedingungen in deutschen Kitas.
Der Paritätische Gesamtverband ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Als Dachverband von über 10‘000 gemeinnützigen Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich vertritt er auch die Interessen von zahlreichen Kindertagesstätten. Der Verband basiert auf der Idee der Parität, das heisst der Gleichheit aller Menschen.
Die gewonnenen Erkenntnisse geben viele wichtige Hinweise zu den Belastungen und dem Handlungsbedarf in den Kitas unseres Nachbarlandes. Da die Umfrageergebnisse stark mit der Situation in Schweizer Kitas korrespondieren, ist der Kita-Bericht auch für die Schweizer/Innen sehr interessant.
Neun Handlungsfelder
Die Umfrage orientierte sich an neun Handlungsfeldern aus dem «Gute-KiTa-Gesetz» (KiQuTG), das im Jahr 2019 in Kraft trat:
- Bedarfsgerechtes Angebot
- Betreuungsschlüssel
- Personalgewinnung
- Stärkung der Leitung
- Raumgestaltung
- Kindliche Entwicklung und Gesundheit
- Sprachliche Bildung
- Finanzierung
- Inhaltliche Herausforderungen
Das Thema «Inklusion» kam als Schwerpunktthema zur Diskussion.
Grosser Handlungsbedarf
Die Ergebnisse der Umfrage verdeutlichen wichtige Anhaltspunkte über den Handlungsbedarf in diesen neun Bereichen, so zum Beispiel:
- Unpassende Öffnungszeiten, zu wenige oder zu viele Plätze, unfaire Verteilung von Plätzen
- Ungenügende Fachkraft-Kind-Relation durch Häufung von Vakanzen und hoher Personalfluktuation, mangelhafte personelle Ressourcen zur Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse
- Starke Abwanderung von Personal, Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen, lang anhaltende Vakanzen, Zunahme der Überstunden und der Belastungen im Kernteam, ungenügende Ausbildungskapazitäten
- Steigende Arbeitsbelastung der Leitungen, Absorbierung der Leitungen durch ständige Betreuungseinsätze infolge Personalausfällen, zu wenig Zeit für Führung
- Unbefriedigende Raumsituation, fehlender Hitze- und Lärmschutz, fehlende Bewegungsmöglichkeiten für die Kinder
- Fehlende Möglichkeiten für Einbezug der Kinder bei der Zubereitung von Mahlzeiten, unangemessene und unausgewogene Ernährung, fehlende Mittel für gesunde Mahlzeiten
- Grosse Unterschiede zwischen Stadt und Land in der Zusammensetzung der Kindergruppe, partiell hoher Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund, Zunahme der verschiedenen Sprachen in den Kitas, Zunahme des Förderbedarfs einzelner Kinder, ungenügender Personalschlüssel für die erwünschte sprachliche Förderung, fehlende finanzielle Mittel für zusätzliche Unterstützung
- Ungenügende finanzielle Ressourcen für die Deckung der Betriebs- und Personalkosten, Rückgang der Evaluationen und Fachberatungen
- Zunahme der Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den Eltern, Differenzen in den Erziehungs- und Wertvorstellungen des Betreuungspersonals und der Eltern, zaghafter Einsatz von digitalen Medien in der Betreuung, Schwierigkeiten bei der Digitalisierung der Kita
Die Aufzählung zeigt, dass die Probleme in den Kitas vielfältig und vielschichtig sind.
Ein Problem kommt selten allein
Die Umfrageergebnisse verdeutlichen nicht nur die spezifischen Problematiken. Sie zeigen darüber hinaus auch auf, dass viele Kitas gleich in mehreren Handlungsfeldern vor herausfordernden Situationen stehen. Sie sehen sich also mit multiplen Belastungen konfrontiert. Dabei gibt es Wechselwirkungen und kumulative Effekte, welche zu berücksichtigen sind. Um diese multiplen Belastungen von Einrichtungen nachvollziehbar zu machen, führt der Kita-Bericht einen Belastungs-Index ein.
Belastungsindikatoren
Für die Berechnung dieses Belastungs-Index wurde jedem der neun Handlungsfelder ein Indikator zugeordnet:
- Unangemessenheit des Angebots
- Überstunden der pädagogischen Fachkräfte
- Anteil der unbesetzten Stellen
- Zeitmangel der Leitungskräfte für Führungsaufgaben
- Grad der Lärmbelastung
- Unausgewogenheit bei der Ernährung
- Förderbedarf bei der Sprachentwicklung der Kinder
- Ausmass ungenügender Finanzierung der Kita
- Unterschiedlichkeit der Erziehungsvorstellungen von Fachkräften und Eltern
Alle Indikatoren wurden auf einer Skala von 1 bis 4 eingeschätzt. Dadurch liess sich ein Belastungs-Mittelwert berechnen. Dieser zeigt an, wie stark eine einzelne Einrichtung durch unterschiedliche Probleme belastet ist. Wenn eine Kita in keinem der Themenfelder ein Problem hat, ergibt sich ein Mittelwert von 1, wenn alle Themen als stark problematisch angesehen werden, ein Mittelwert von 4. Ein Mittelwert von 1 bis 2 wird als eine niedrige Belastung, ein Wert von über 2 bis 3 als mittlere Belastung und ein Mittelwert über 3 bis 4 als hohe Belastung betrachtet.
Der Kita-Bericht zeigt auf, dass bundesweit nur 11 Prozent der befragten deutschen Kitas eine niedrige Belastung aufweisen. Zwei Drittel aller Kitas sind von einer mittleren Mehrfachbelastung betroffen. 22 Prozent leiden unter einer sehr starken multiplen Belastung.
Ergänzungen für Kitas in der Schweiz
Die Idee eines Index, der die zahlreichen Belastungen spiegelt, gefällt mir gut. In meiner Tätigkeit als Berater stelle ich regelmässig fest, dass Kitas mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert sind. Allerdings würde ich die Belastungsliste aus meiner eigenen Sicht – wie auch aus Sicht der Schweiz – wie folgt ergänzen:
- Wachsender Konkurrenzdruck
- Sinkende Belegung und Nachfrage
- Steigende finanzielle Defizite, erhöhter Kostendruck
- Zunehmende Unterschiede zwischen den Wertvorstellungen von Führungskräften und Betreuungspersonal
- Zunehmende Probleme bei Stellenbesetzungen (inkl. Lehrstellen)
- Schwierigkeiten bei der Passung von Kita, Team und neuem Personal
- Abnahme der Belastbarkeit des jüngeren Personals
- Wachsende Ansprüche seitens Eltern und Behörden
- Zunahme der Probleme, diese Ansprüche mit den vorhandenen Ressourcen zu erfüllen
Diese Auflistung ist nicht abschliessend. Ich bin sicher, dass sie von Ihnen problemlos erweitert werden könnte.
Belastungs-Index als Kennziffer für das Monitoring
Zurück zum Index: Obwohl er im Kita-Bericht nicht selbsterklärend beschrieben wird und seine Konstruktion vermutlich keinen strengen wissenschaftlichen Kriterien unterliegt, ermöglicht er ein Verständnis davon, wie sehr Kitas in verschiedenen Handlungsfeldern unter Druck stehen. Als vereinfachender Benchmark gestattet er Vergleiche zwischen einzelnen Kitas und Regionen. Zudem stellt er ein praktisches Hilfsmittel für die Einschätzung der aktuellen Situation einer Kita (z.B. durch die Trägerschaft, Führungskräfte, Aufsichtsbehörden, Fachberater usw.) dar.
Vielleicht sollten wir in der Schweiz diese Idee aufgreifen und weiterverfolgen? Auch hierzulande müssten wir viel stärker über die Mehrfachproblematiken von Kitas nachdenken und darüber diskutieren. Wir könnten Mehrfachprobleme sinnvoll parametrisieren, gewichten und in einen Zusammenhang miteinander bringen. Das würde uns noch besser und stärker als bisher für die zahlreichen Anforderungen an Kitas sensibilisieren. Indem sie in einen Index einfliessen, ergäbe sich eine spannende Kennziffer. Diese könnte in das Monitoring einfliessen, das seit einiger Zeit schweizweit im Aufbau begriffen ist.